THOMAS BICKHARDT, SEEMANN UND PSYCHOLOGE, HAT ALS LEUCHTTURMWÄRTER IM NORWEGISCHEN KRÄKENES VIEL VOM MEER GELERNT. NUN IST ER NACH 30 JAHREN IN SEINE ALTE HEIMAT ZURÜCKGEKEHRT
Es gibt Leben, die kann man sich vorstellen, bei anderen reicht die Fantasie kaum aus. Thomas Bickhardt hat ein solches geführt. Im Jahr 1994, da ist er 31 Jahre jung, wandert er nach Norwegen aus und verdingt sich als Leuchtturmwärter an einem westnorwegischen Fjord, der nahe der Kleinstadt Măløy ins Meer mündet. Kråkenes fyr – das ist der Name des Leuchtturms, der eigentlich kein Turm, sondern ein Haus ist. 40 Meter über dem Meer: für viele Jahre sein ganz besonderes Zuhause über den Klippen. Der junge Mann, studierter Psychologe und ausgebildeter Seemann,
erfüllt sich damit einen Kindheitstraum, getriggert von seinen Eltern, die viele Jahre mit ihrem Sohn im Urlaub durch Norwegen reisten. Die ersten Jahre sind hart: Er kämpft mit den Eigenarten der rauen Küsten-Norweger, die einerseits sehr hilfsbereit und lösungsorientiert, andererseits aber auch beständig und stur sind — wie das Land, die Klippen und das Meer. Er kämpft mit dem heruntergekommenen Bauwerk und investiert viele Stunden handwerklichen Lernens, um das Haus, in dem er später Seminare für Führungskräfte abhalten will, ordentlich herzurichten. Und er
kämpft mit den Naturgewalten, die selbst einen Seemann das Fürchten lehren können. Schon in seiner zweiten Saison erlebt Thomas Bickhardt auf der Klippe den mächtigsten vorstellbaren Orkan: mehr als Stufe zwölf 5 auf der Beaufortskala, danach kommt eigentlich — nichts mehr. Trotzdem traut er sich hinaus, weil er Fotos machen will. Das Wasser läuft ihm wie aus Eimern geschüttet über den Körper, der Wind hämmert in seinen Ohren, seine Gliedmaßen zittern vor Anstrengung und Adrenalin, das Herz pocht, und mühsam ringt er nach Atem. Gischt fliegt über den Leuchtturm, haushohe Wellen treffen mit brutaler Gewalt auf Felsen. Er schafft es zurück ins Haus und fühlt sich großartig. Wie neugeboren. Authentisch und lebendig und gleichzeitig klein und verletzlich. „In diesen Stunden hat sich mein Verhältnis zur See verändert. Aus der überschwänglichen, vielleicht noch etwas naiven Verliebtheit eines jungen Mannes wird an diesem Tag eine tiefe, respektvolle und erwachsene Verbindung, die etwas von einer jahrzehntelangen Ehe hat: Da gibt es Liebe und Hass, Nähe und kribbelnde Spannung. Das Meer kann eine wunderschöne Braut sein.
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Aus PUBLIK FORUM EXTRA, August 2024
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