„In der Jugend meinen wir, das Geringste, das die Menschen uns gewähren können, sei Gerechtigkeit. Im Alter erfahren wir, dass es das Höchste ist.“ Dieser Satz wird der klugen Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach zugesprochen. Wer über Vergebung und Versöhnung philosophieren möchte, der sollte, denke ich, zunächst einmal über Gerechtigkeit nachdenken. Tatsächlich war ich in jüngeren Jahren der Meinung, Gerechtigkeit sei etwas, das nicht nur die Menschen, sondern die Welt mir schuldig sei – und mir immer wieder schuldig blieb.
Geboren wurde ich im Ruhrgebiet Anfang der 60er Jahre. Im klassischen Arbeitermilieu. Ich war ein ernstes Kind und selbst mein heute fast 90 Jahre alter Klassenlehrer erinnert sich, dass ich als Kind nur ganz selten lachte. Ich fühlte mich nicht wohl – nicht in meiner Haut und nicht in meinem sozialen Umfeld. Anders als meine Geschwister hatte ich in meinen Kinder- und Jugendtagen weder einen Freund noch eine Freundin. Jedenfalls keine aus Fleisch und Blut. Meine Freunde entstanden mir aus Druckerschwärze und entfalteten ihre Leben, sobald ich ein Buch aufschlug und die Seiten umblätterte. Meiner Familie, so schien es mir, war ich in vielerlei Hinsicht eine Fremde und aus diesem Anderssein erwuchs mir – wie ich fand – so manche Ungerechtigkeit. Dieses kindliche Erleben, das wohl viele von uns kennen, nannte der Schriftsteller Charles Dickens einst „scharf und bitter!“ Und das war es auch.
Gerechtigkeit – das ist bis heute für mich ein hohes Gut. Viele Jahrzehnte später aber weiß ich: Gerechtigkeit ist nicht nur ein hohes, sondern auch ein seltenes Gut. Was in unserer Gesellschaft mehrheitlich erlebt wird, ist nicht Gerechtigkeit, sondern Recht. In starre Paragrafen gegossenes, justiziables Recht – und, ja, auch das ist ein hohes Gut. Aber es ist keineswegs dasselbe. Recht basiert auf der Kollektivität aller Bürgerinnen und Bürger. Ein nicht zu leugnender Fortschritt gegenüber staatlicher Willkür wie sie in Diktaturen vorherrscht. Recht ist so viel mehr als offenkundiges Unrecht und ich heiße mich glücklich in einem Staat zu leben, der im Regelfall Recht spricht. Dennoch: Unsere Auffassung von Recht ist weit davon entfernt, sich gerecht nennen zu dürfen. Denn wer Gerechtigkeit üben will, muss jenseits des gesellschaftlichen Kollektivs in jedem einzelnen Moment jedes einzelne Individuum in den Blick nehmen. Ein kaum einlösbarer Anspruch.
Meine Mutter erklärte mir einmal: […]
Erschienen in: PUBLIK FORUM EXTRA THEMA, Mai 2023
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