Der 21-jährige Teun Toebes zog freiwillig in ein Pflegeheim und lernte von seinen dementen Mitbewohnern, was menschliche Pflege bedeutet. Er erzählt […]
Natürlich klingt es derzeit ein bisschen bizarr; wenn ein 21-Jähriger sich dafür entscheidet, in einem Zimmer in einem Pflegeheim für Menschen mit Demenz zu wohnen.
hoffe, in der Zukunft wird das nicht mehr so sein, denn das Zusammenleben unterschiedlicher Menschen sollte eigentlich ganz normal sein. Ich wollte einfach wissen, wie sich das Leben in einem
Pflegeheim anfühlt, wenn man es nicht nur zum Arbeiten betritt. Mein Zimmer ist eher spartanisch eingerichtet: ein Tisch, Stühle, ein Bücherregal, ein Schrank. Von allen anderen Zimmern unterscheidet es sich nur dadurch, dass ich ein Doppelbett habe und echte Zimmerpflanzen. Letztere sind hier nämlich verboten. Wahrscheinlich, weil ein Mensch mit Demenz vielleicht
mal ein Pflanzenblatt zu essen versucht hat. Ebenso verboten sind weichgekochte Eier, denn aus einem solchen könnte sich eine Salmonellenvergiftungswelle ausbreiten. Und damit wären
wir schon beim Kern meiner Kritik am niederländischen Pflegesystem: Aus Sicherheitsgründen und um jedes Risiko zu vermeiden, wird die Individualität der an Demenz erkrankten alten
Menschen missachtet. Ja, vielleicht hat mal ein Bewohner versucht, ein Pflanzenblatt zu essen. Aber wieso wird aus diesem einen Vorfall dann ein Regelsatz für alle abgeleitet? Natürlich kostet eine individuelle Behandlung der erkrankten Menschen Zeit. Natürlich macht das Arbeit und Mühe. Aber ausgehen könnten. Oder nehmen wir John, mit dem ich freitags immer gerne ausgegangen bin. Ein Blick in das fröhliche Gesicht meines Mitbewohners hätte gereicht, um zu wissen: John hat sich gut amüsiert! Stattdessen wurde ich mit sorgenvollen Worten begruf3t: „Teun, hast du eigentlich eine Haftpflichtversicherung?“ Es läuft etwas falsch in der Pflege. Nicht nur in den Niederlanden. Wir pumpen jedes Jahr 18 Milliarden Euro in unsere Pflegeheime. Das
ist nicht zu wenig Geld, das ist falsch investiertes Geld. Wir investieren nicht in Gesprächszeit mit den zu Betreuenden, wir reden lieber über die Betreuten. Wir investieren nicht in die individuelle Lebensqualität der Betroffenen, wir finanzieren lieber 20.ooo Euro in künstliche Pflanzen – wie in meinem Pflegeheim. Dabei mache ich nicht generell den in der Pflege beschäftigten
Menschen einen Vorwurf. Viele von denen wollen ja gerne anders – und können es nicht, weil das System so ist, wie es ist. Wenn wir Kontrolle und Sicherheit, normierte Tagesabläufe ohne jede
Kreativität über Liebe, Individualität und Mitmenschlichkeit stellen, dann erschaffen wir weiter Orte, wo wir selbst später nicht leben wollen.
Ich mit meinem 23 Jahren habe ja vielleicht noch die Zeit, auf Veränderungen zu warten. Meine aktuellen Mitbewohner haben diese Zeit nicht. Durchschnittlich leben diese Menschen in den
Niederlanden nur acht Monate in einem Pflegeheim. Deshalb müssen wir schnellstens einen anderen Blickwinkel einnehmen. Denn nur wer anders sieht, kann anders handeln. Und wo steht denn überhaupt geschrieben, dass alte Menschen mit Demenz isoliert von der Gesellschaft an einem Ort komprimiert zusammenleben müssen? Wer sagt denn, dass diese Menschen nicht mitten unter uns leben könnten? […]
Erschienen in PUBLIK FORUM EXTRA LEBEN, April 2023
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