Unser Bild von den nordamerikanischen Indianern ist geprägt von Vorurteilen und romantisch gefärbten Kindheitserinnerungen. Entweder werden sie als Angehörige einer primitiven und damit dem Untergang geweihten Kultur gesehen. Oder wir bemühen das Bild des edlen Wilden, wie es zum Beispiel von Kar1 May mit Winnetou geschaffen wurde. Beiden Blickwinkeln ist eines gemeinsam: Sie verhindern einen aufgeschlossenen, realistischen Blick auf die nordamerikanischen Indianer-Kulturen. Die nomadische Lebensweise der großen Prärievölker mag untergegangen sein, das Wissen um die alten Traditionen ist es nicht. Joseph M. Marshall, ein Indianer vom Volk der Lakota, erinnert an die Legenden seines Volkes und filtert aus ihnen die Werte, von denen er glaubt, dass sie zur Heilung des modernen Menschen und zur Rettung unserer Erde beitragen könnten.
Woinila – STILLE
Der 10-jährige Lakota-Junge, den man später ,,Walks Alone” nennen sollte, verlor früh seine Eltern und wurde fortan von seiner Großmutter ,,Gray Grass” großgezogen. Eines Tages nahm
sie den Jungen mit auf eine lange Reise. Auf dieser Wanderung lehrte sie ihren Enkel, Orte der Stille zu finden, weil sie wusste: Ein Ort der Stille ist nicht nur ein Rückzugsort in schweren
Zeiten, sondern auch ein Ort der Stärke, an dem man seiner Trauer, seinem Kummer, seinem Ärger und seiner Einsamkeit begegnen kann. Ein Ort, der nur einem selbst gehört, an
dem man seinen Geist öffnen und die Dinge verstehen lernen kann. In der Tradition der Lakota-Indianer hat die Stille einen ganz besonderen Platz. Als jagendes Volk war die Stille überlebenswichtig – und jedes Kind lernte, sich lautlos zu bewegen. Das Jagdglück und der Erfolg im Kampf hingen davon ab, Tiere und Menschen nicht vorzeitig zu warnen. Um äußerlich still
zu werden, lernten die Lakota, auch innerlich still zu werden: Jeder nicht zielführende Gedanke – etwa daran, zu scheitern – musste aus dem Kopf verbannt werden. Ohne diese spirituelle Stärke waren die physischen Stärken nutzlos. Aber die Stille war nicht nur bei der Jagd und im Kampf lebenswichtig. Für die Lakota ist die Stille ein Daseinszustand, der uns in die Selbstbetrachtung und damit zu unserem Inneren führt. Sie ist ein Ort, an dem wir lernen können, unser Sein zu akzeptieren und uns mit dem Lebendigen zu verbinden. […]
Erschienen in: Natur und Heilen, 8/2016
Download “Die Weisheit der Lakota”
0911_Weisheit_der_Lakota-1.pdf – 226-mal heruntergeladen – 5,00 MB